Manchmal ist Mut nicht laut. Er sitzt auf dem Beifahrersitz, schnallt sich an und sagt: „Lass uns einfach losfahren.“ Genau so kann sich Reisen anfühlen – nicht als Flucht, sondern als bewusster Schritt in ein Leben, das größer ist als die Angst. Die Panik fährt mit, klar. Aber der Mut auch. Und unterwegs lernt er, lauter zu sprechen.
Warum Reisen heilsam wirken kann (nicht immer aber vielleicht immer öfter)
• Perspektivwechsel: Neue Orte unterbrechen alte Muster. Wo alles anders ist, hat die Angst weniger Ankerpunkte – und der Kopf bekommt frische Bilder statt alter Schleifen.
• Selbstwirksamkeit: Jede kleine Etappe („Man hat es bis zum Bäcker in der fremden Stadt geschafft!“) ist ein Beweis: Man kann handeln, auch wenn es schwer ist.
• Dosierte Konfrontation: Reisen bietet natürliche Mini-Expositionen: kurze Fahrten, fremde Supermärkte, neue Wege. Nicht zu groß, nicht zu klein – genau richtig zum Üben.
• Routinen neu lernen: Fern von Zuhause entwicklt man Rituale, die zu einem passen – eine Atemübung nach dem Aussteigen aus dem Auto, eine kurze Dehnroutine vor der Fahrt, ein abendlicher Spaziergang auch wenn es nur um den Parkplatz geht.

Der Start: klein, planbar, freundlich
Man beginnt nicht mit dem Roadtrip bis ans Ende der Welt. Sondern mit einer Übernachtung in der Nähe, mit klaren Exit-Optionen: „Wenn es zu viel wird, kann man jederzeit zurück.“ Das Wissen allein kann entspannen.
Man kann und darf sich vor der Abfahrt z.B. folgende Sätze denken:
1. Angst darf da sein.
2. Mein Körper kann Aufregung halten.
3. Ich entscheide in kleinen Schritten.
Was konkret helfen kann – unterwegs
• Mikro-Etappen statt Mammut-Ziele: 30–60 Minuten fahren, dann Pause. Ein Kaffee oder ein Glas Wassser, fünf tiefe Atemzüge, kurz barfuß über die Straße laufen.
• Anker fürs Nervensystem: Ein vertrauter Duft, eine Playlist mit seiner Lieblingsmusik oder ein Hörbuch, ein Stein in der Tasche – etwas Greifbares, das „Hier & Jetzt“ sagt.
• Die 4-7-8 Atmung: Vier Sekunden einatmen, den Atem sieben Sekunden lang anhalten und für acht Sekunden ausatmen. Diese gezielte Atemtechnik kann helfen, das Nervensystem zu beruhigen, Stress abzubauen, den Herzschlag zu senken und das Einschlafen zu erleichtern. Sie kann in stressigen Momenten oder vor dem Schlafengehen angewendet werden und basiert auf alten Yoga-Techniken.
• Reattribuieren (umdeuten): Herzklopfen? Nicht „Gefahr!“, sondern „Körper gibt Energie für etwas Neues.“
• Plan B & C sichtbar: Auf dem Handy markiere ich Rastplätze, Krankenhäuser, Parks etc. Nicht, um zu flüchten – sondern um Wahlmöglichkeiten zu haben. Wahl beruhigt.
• Langsam ankommen: Am Ziel erst ankommen, dann entdecken: duschen, Fenster öffnen, zwei Minuten still sitzen. Nervensystem vor Abenteuer.
Rückschläge gehören dazu
Es gibt Tage, da will man einfach nur noch heim. Kein Heldentum, kein YouTube-Moment. Nur Frust. Das sind wichtige Kapitel: Man lernt, nicht den Tag zu löschen, sondern den nächsten kleinen Schritt zu suchen. Manchmal kann das nur: zum Kiosk um die Ecke gehen etc.
Abends sollte man sich dann den Beweis notieren: „Heute trotz Druck 12 Minuten spaziert.“ Der Beweisordner im Handy ist Gold wert.
Einsichten von der Straße
• Mut ist Training, nicht Talent. Je öfter man startet, desto vertrauter wird das Kribbeln vor der Abfahrt.
• Sicherheit ist ein Gefühl, kein Ort. Ich kann es in mir kultivieren – mit Routinen, Atem, Sprache.
• Verbundenheit schützt. Eine kurze Sprachnachricht an einen Menschen, der meinen Weg kennt, kann eine Panikspirale abbremsen.
• Freiheit ist dosierbar. Man selbst bestimmt Tempo, Pausen, Umwege. Kontrolle im Kleinen schafft Freiheit im Großen.

Mini-Übungen für deine nächste Reise
• Vorbereitung (5 Minuten): Schreib drei Dinge auf, die dir vor Ort guttun könnten (z. B. Park am Fluss, Bäckerei, Apotheke um die Ecke, Aussichtspunkt).
• Vor Ort (2 Minuten): Suche eine „Sicher-Ecke“ (Bank im Schatten, Platz am Fenster) und verankere sie: fünf tiefe Atemzüge, Blick schweifen lassen, Geräusche zählen.
• Nachklang (1 Minute): Nimm einen Satz mit: „Heute habe ich … geschafft.“ Speichere ihn in deinem Beweisordner.
Packliste für den Kopf
• Neugier statt Bewertung: „Interessant, dass mein Herz rast. Was braucht es gerade?“
• Freundliche Selbstgespräche: So, wie du mit deinem besten Freund sprechen würdest – nie härter.
• Grenzen als Freund: Wenn 300 km zu viel sind, sind 80 km genau richtig.
• Feiern, auch leise: Jedes „trotzdem“ ist ein Sieg.
Wenn’s ernst wird
Reisen kann unterstützen, ersetzt aber keine professionelle Behandlung. Wenn dich die Symptome stark einschränken, hol dir Hilfe (z. B. Psychotherapie). Und wenn du unterwegs merkst, dass es kippt: anhalten, atmen, jemanden anrufen. Hilfe holen ist kein Rückschritt – es ist Verantwortung.
Fazit
Reisen ist kein Beweis, dass man „geheilt“ ist. Es ist der Weg, auf dem man jeden Tag ein wenig freier werden kann. Die Panik wird vielleicht immer mal wieder mitfahren oder kann ein ständiger Bekleider sein. Aber der Platz neben dir gehört dem Mut. Und der lernt mit jeder Kurve, wie stark er eigentlich ist.
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